Die Lichthüterin
mit freundlicher Genehmigung von Rena Larf
Die Welt liegt in Watte gepackt.
Die kleinen Zipfelhüte der Sodoland-Berge sind bedeckt mit Schnee und nur ab und zu kann man einen grünen Weihnachtswichtel in seinem Mantel aus Gras und Blättern durch das Weiß des Waldes stapfen sehen. Sonst sind die Wichtel fast unsichtbar durch ihre Tarnung.
Die Weihnachtselfe indessen schwebt sicher in der Luft, ein zartes Schleierkleid umschmeichelt ihre prachtvolle Figur. Ihre Haare glänzen noch goldener als der schönste Goldstaub und die schimmernden Flügel sind durchsichtig und summen leise wie Libellenflügel. Die Silberglöckchen, die ihren Kopf wie Blütenknospen schmücken, klingeln bei jeder Bewegung eine feine, kleine Melodie dazu. Sie rufen zur Wahl der Lichthüterin, die auf das wunderschöne Weihnachtslicht aufpassen muss, während sich die Weihnachtselfe mit dem Weihnachtsmann um die Geschenke kümmert. Ihr müsst nämlich wissen, dass zu Weihnachten extra eine Elfe ausgeguckt wird, die das Weihnachtslicht behüten muss. Dieses Licht ist unheimlich wichtig, sonst leuchtet nämlich kein Weihnachtsbaum so richtig schön, wie wir es kennen. Das Weihnachtslicht wird in jedes Haus gestreut, damit es den Menschen warm ums Herz wird.
Nun ist es wieder so weit. Dieses Jahr muss eine neue Elfe gewählt werden.
Durch die vom Mond durchglühten Silberwölkchen am frühen Abendhimmel funkeln die Sterne auf die Lichtung hinab, auf der die anderen Elfen miteinander wie schwerelos tanzen.
„Lasst uns wählen“, ertönt wohlklingend die Stimme der Weihnachtselfe.
Die Elfen halten inne mit ihrem Tanz und suchen sich Sitzplätze auf den umher liegenden großen Felsen am Rand der Lichtung. Gesang und Saitenspiel verstummen mit dem Wispern des Winterwindes.
„Wieder einmal ist es kurz vor Weihnachten“, fährt die Weihnachtselfe fort, „ und wir müssen die Hüterin des Lichtes aus unserer Mitte erwählen.“
Ein Raunen geht durch das kleine Völkchen.
Eine junge Elfin betritt den Mittelkreis der Lichtung und gibt zu erkennen, dass sie sich zur Wahl stellen möchte.
“ Mein Name ist Alfruna. Ich bin schlau und schnell und kann das Weihnachtslicht in Nullkommanix in alle Häuser streuen. Meine eifrige und unermüdliche Arbeit kennt ihr und ich bin die Beste dafür.“
Alfruna wirft ihr Haar stolz in den Nacken und blickt herausfordernd in die Runde, bevor sie auf ihrem Felsen wieder Platz nimmt.
Die Weihnachtselfe macht eine wohlwollende Geste und die nächste Anwärterin tritt in den Kreis.
„Mein Name ist Lidwina, mein Ruhm eilt mir voraus. Ich bin schneller als Alfruna und habe schon große Aufgaben erledigt zur Zufriedenheit des Weihnachtsmannes. Wenn jemand Hüterin des Lichtes wird, dann bin ich es.“
Lidwina schaut die Weihnachtselfe grinsend und selbstsicher an und setzt sich schwungvoll auf ihren leicht erhöhten Felsvorsprung.
Die Weihnachtselfe atmet tief durch und seufzt leise.
„Wer noch... wer von euch traut es sich zu, diese ehrenvolle und wichtige Aufgabe zu übernehmen, damit die Lichter an den Weihnachtsbäumen dieses Jahr besonders hell leuchten?“
Die Elfen verstummen jäh. Viele von ihnen senken den Blick.
Nur Alfruna und Lidwina blitzen sich gegenseitig mit bösen Blicken an.
Eine unendliche Weile herrscht Stille im Weihnachtsreich der Elfen.
Dann erhebt sich eine kleine, etwas pummelige Elfe und tapst stolpernd in Richtung Mittelkreis der Lichtung. Das Raunen und Wispern nimmt zu und steigert sich schließlich zu einem großen Gelächter.
Selbst die Weihnachtselfe kann ein leichtes Schmunzeln nicht verbergen, bittet aber nach kurzer Zeit mit einer freundlichen Geste um Ruhe.
Sie runzelt ihre Stirn und nickt aufmunternd mit dem Kopf: „Nun...?“
Die kleine, pummelige Elfe räuspert sich und spricht mit piepsender Stimme:
„Ich bin Lykke. Man nennt mich die Glückliche, weil ich immer fröhlich bin und mein Volk zum Lachen bringe. Nun... ich ... ich würde es gerne versuchen, Hüterin des Lichtes zu sein.“
Ein brausendes Gelächter schallt über die Lichtung. Die Elfen schlagen mit ihren Libellenflügeln um die Wette, um nicht vor lachen von ihren Felsen zu purzeln.
Die Weihnachtselfe schließlich gebietet Einhalt und Stille legt sich über den Mittelkreis.
Alle erwarten mit Spannung ihre Worte, nachdem klar wird, dass es keine weiteren Bewerberinnen geben wird.
Die Weihnachtselfe erhebt sich, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen und spricht zu ihrem Volk: „Nun, es ist eure Entscheidung. Mir als Weihnachtselfe steht traditionsgemäß eine erste Bewertung der Kandidatinnen zu.“ Sie macht eine Pause.
„Alfruna, deine Schnelligkeit ist für unser Volk von Nutzen. Dein Hochmut jedoch ist etwas, dass das Leuchten des Weihnachtslichtes verdunkeln würde.“
Gemurmel erfüllt die Lichtung und Alfruna wirft einen schmollenden Blick in die Runde.
„Lidwina, dein Ruhm und deine Taten sind wahrlich legendär. Deine Machtgier allerdings würde das Licht der Hüterin zur Finsternis machen.“
Ein erschrockener Ausruf füllt den Mittelkreis mit Leben und Lidwina fliegt erbost in das Unterholz.
Dann wendet sich die Weihnachtselfe der kleinen, pummeligen Lykke zu.
„Und nun zu dir, du Glückliche.“ Die Elfe lächelt zufrieden.
„Sicher, du entsprichst nicht der optischen Norm einer Lichthüterin. Du wirst bestimmt etwas länger brauchen, um das Weihnachtslicht zu verstreuen. Aber ist es nicht die Zeit des Wartens auf etwas Besonderes, die schöner ist, als die Freude selbst?
Liebste Lykke, welche größere Ehre könnte uns widerfahren, als wenn du das Licht des Lächelns und des Glücks an die Weihnachtsbäume hängst und die Herzen der Menschen mit Freude erfüllst?“
In den Elfenkreis kommt Bewegung, aufgeregtes Umherschwirren ist die Folge, wisperndes Getuschel.
Nach einiger Zeit kehrt Stille auf die große Lichtung ein.
Und so kommt es, dass die Weihnachtselfe in diesem Jahr nach einem einstimmigen Beschluss der anwesenden Elfen dem kleinen Pummelchen den Titel „Lichthüterin“ verleiht.